Der Kampf gegen die Pandemie – Impfstoffentwicklung

Stephan Becker zur komplexen Impfstoffentwicklung.

Professor Dr. Stephan Becker leitet das Institut für Virologie der Philipps-Universität Marburg. In Zeiten von Corona ist der Experte gefragter denn je. Wenn man ihn danach fragt, was ihn an seiner Forschung so fasziniert, kommt er auf die minimalistische Ausstattung der Viren zu sprechen, die so viel einfacher sei als eine menschliche Zelle – und dennoch hocheffektiv. „Das interessiert mich sehr“, sagt er.

Im RHÖN-Gesundheitsblog spricht der Virologe über die komplexe Impfstoffentwicklung, an der er und sein Team mitwirken, und weitere Herausforderungen im Kampf gegen die Corona-Pandemie.

Herr Professor Becker, zuerst die entscheidende Frage dieser Monate: Wie lange dauert es noch, bis wir einen Impfstoff gegen Covid-19 haben?

Eine Impfstoffentwicklung ist grundsätzlich immer eine langwierige Sache. Früher hat man immer damit gerechnet, dass man, wenn ein neues Virus auftritt, ungefähr zehn bis 15 Jahre braucht, bis ein passender Impfstoff verfügbar ist. Im Kampf gegen Covid-19 dürfte es schneller gehen. Ich rechne mit 2021.

Was ist die Herausforderung?

Hier geht es um ein für den Menschen neues Virus, gegen das kein Impfstoff existiert und gegen das wir nicht immun sind. Es fehlt also eine entsprechende Abwehr des Organismus.

Wie kann man sich die Entwicklung vorstellen?

Dafür haben wir verschiedene Strategien entwickelt, unter anderem die sogenannte Plattformstrategie. Wir haben einen großen Teil des Impfstoffs, den wir brauchen, quasi schon fertig, und setzen nachträglich nur noch das Spezifische ein, das gegen das jeweils neue Virus helfen soll.


    Ich spreche da immer gerne vom Lego-Baukasten, mit dem man ein Auto
baut, bei dem nur noch die Räder fehlen, die dann individuell für jede
Situation neu angepasst werden. Für jeden neuen Impfstoff gibt es also
„neue Räder“, während das Bewährte bleibt.


Und die Grundlage, also das Auto, entspricht was genau?

Das ist ein Impfvirus, das wir verwenden, und das bei der Ausrottung der Pocken benutzt worden ist. Von daher hat man in der Branche große Erfahrung. Man weiß also um die Risiken und Nebenwirkungen dieses Impfvirus. Seit einigen Jahren kann man jetzt mit molekularbiologischen Methoden dieses Virus noch einmal verändern und ihm an bestimmen Stellen Informationen einfügen.

Welche Art von Information?

Zum Beispiel eine über das Oberflächenprotein des neuartigen Coronavirus. Diese Oberflächenproteine entsprechen quasi den Rädern des Lego-Autos aus meinem Beispiel.

Und welchen Nutzen bringt das Einpflanzen dieser Extrainformationen?

Wir wissen von anderen Coronaviren, dass die Immunantwort gegen diese Oberflächenproteine ganz entscheidend ist, damit der vom Virus befallene Mensch gegen die Infektion geschützt ist. Einfach ausgedrückt: Wenn man das Immunsystem dazu bringen kann, gegen dieses Oberflächenprotein aktiv zu werden, ist die betroffene Person gut geschützt.

Und wie kommt man zuallererst an Informationen über das neuartige Coronavirus?

Anhand molekularbiologischer Methoden. Die Abfolge der einzelnen Bausteine der Geninformation, die sogenannte Gensequenz des SARS-Corona-Virus, ist schon länger bekannt, nämlich seit Mitte oder Ende Januar. Wir müssen dann nur noch das Gen des aktuellen, neuartigen Coronavirus für das Oberflächenprotein synthetisieren, wie sich das nennt. Dieses Gen, das den Rädern aus meinem Beispiel entspricht, wird dann in die Impfstoffplattform, die dem Lego-Auto entspricht, eingefügt.

Gibt es noch andere Hürden auf dem Weg zu einem Impfstoff?

Wir werden nicht weniger als 14 Milliarden Dosen dieses Impfstoffs brauchen. Das ist so viel, dass ein einzelner Hersteller das nicht in einer angemessenen Zeit leisten kann. Insofern ist es sinnvoll, dass jetzt mehrere Impfstoffkonzepte nebeneinanderher entwickelt werden. Im nächsten Schritt muss dann geprüft werden, welche unter ihnen wirksam sind, und welche unter ihnen die besten sind.

Wie lange wird das dauern und wie geht es dann weiter?

Das wird sich vermutlich in den kommenden sechs bis zwölf Monaten herausstellen. Dann braucht man die Produktionskapazitäten für diese Impfstoffe. Die sind momentan noch gar nicht vorhanden, müssen also teilweise erst gebaut werden. Wenn wir also sagen, dass im kommenden Jahr ein Impfstoff da ist, heißt das noch lange nicht, dass wir dann auf einmal diese 14 Milliarden Impfstoff-Dosen vorrätig haben.

Was wiederum zu Diskussionen führen dürfte…

Wir müssen uns dann, wenn es soweit ist, überlegen, wer den Impfstoff zuerst bekommen soll. Das sind völlig neue Überlegungen, die wir dann anstellen müssen.

Wer würde infrage kommen?

Unter anderem diejenigen Leute, die besonders schwer an dem neuen Coronavirus erkrankt sind, zum Beispiel ältere Menschen, solche mit Vorerkrankungen, oder eben auch alle, die im Gesundheitswesen arbeiten. Diese Leute wären dann geschützt und würden das Virus auch nicht weiterübertragen.

Die Entwicklung vieler Impfstoffe dauert sehr lange, um die 15 Jahre. Auch wenn es hier jetzt offenbar schneller geht: Warum dauert es so lange?

Es gibt verschiedene Schritte, die man durchlaufen muss, um solch einen Impfstoff herzustellen. Der erste ist, dass man den Stoff herstellt. Das funktioniert anhand molekularbiologischer Methoden. Das geht heutzutage viel, viel schneller als früher, braucht aber trotzdem eine gewisse Zeit. Der aktuelle Impfstoffkandidat war innerhalb von zwei Monaten fertig.

Und dann?

Im zweiten Schritt muss man ihn dann charakterisieren, wie wir das nennen. Dazu verwenden wir Tiere. Hier werden zum Beispiel Mäuse immunisiert. Dann prüfen wir, ob sie eine Immunantwort entwickeln, von der man vermutet, dass sie vor einer Infektion schützt.

Und wenn das der Fall ist?

Dann wird Stoff in großen Mengen produziert. Gleichzeitig beginnt man mit der Vorbereitung der klinischen Studien. Die laufen in verschiedenen Phasen ab. In der ersten geht es darum, sicherzustellen, dass der Impfstoff keine schädlichen Nebenwirkungen hat. Man muss an dieser Stelle sehr hohe Anforderungen stellen, schon weil später dann ja gesunde Menschen geimpft werden.

Zuvor wird noch am Menschen getestet…

Ja, genauer gesagt, wie gut die Immunantwort beim Menschen ausfällt. In der letzten Phase wird die Wirksamkeit des Stoffs überprüft. Sie ist kritisch, und hier werden auch schon viele Menschen immunisiert. Bevor der Impfstoff zugelassen wird, sind möglicherweise schon Hunderttausende geimpft. Für Irritationen in der medialen Debatte sorgt oftmals, dass irgendwelche der genannten Entwicklungsphasen mit der tatsächlichen Verfügbarkeit des Impfstoffs verwechselt werden.

Im besten alle Fälle flacht die Ansteckungskurve weiter ab. Wie wichtig ist, dass trotzdem flächendeckend geimpft wird sobald der Impfstoff verfügbar ist?

Sehr wichtig. Es ist in den vergangenen Wochen gelungen, die Anzahl der Infektionen zurückzudrängen. Auf der anderen Seite gibt es einen sehr großen Teil der Bevölkerung, der bisher noch keinen Kontakt hatte mit dem Virus. Das sind meiner Einschätzung zufolge zwischen 95 und 98 Prozent. Diese Menschen sind nicht immun, und es gilt, sie weiterhin zu schützen.

Das heißt, sie gehen von einer zweiten Ansteckungswelle aus, wenn nicht demnächst flächendeckend geimpft würde?

Solange es keinen flächendeckenden Immunschutz gibt, ist diese Gefahr natürlich immer da.

Wie hat die Medizin sonst noch auf Covid-19 reagiert?

Neben dem Impfstoff werden zur Zeit auch Medikamente entwickelt und getestet, die teilweise sehr vielversprechend sind und dann vielleicht die schweren Fälle von Covid-19 verhindern können. Bei diesem „zweiten Standbein“ geht es also darum, diejenigen, die schon erkrankt sind, zu heilen.

Prof. Dr. Stephan Becker Sonderforschungsbereich 1021 Institut für Virologie Foto: Rolf K. Wegst

Ihr Experte für Virologie:
Prof. Dr. Stephan Becker
Leiter Institut für Virologie der Philipps-Universität Marburg /
Universitätsklinikum Gießen und Marburg am Standort Marburg

Quelle: Rhön Gesundheitsblog